Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 01.08.2022
Wissen aneignen
Gerade über Syndrome wie ME/CFS, Fibromyalgie, POTS, Long Covid oder MCAS wissen Ärztinnen und Ärzte oft nur wenig oder sie haben fehlerhafte Kenntnisse.
Es ist aus meiner Sicht also absolut empfehlenswert, dass du dir selbst Wissen aneignest, dich selbst fortbildest. Selbst wenn du einen Arzt gefunden hast, der sich gut mit deiner Erkrankung
auskennt, macht das Sinn. Denn die Zeit beim Arzt oder der Ärztin ist bekanntlich knapp. Und die meisten vertreten den klassischen schulmedizinischen Ansatz.
Gehe also auf die zahlreichen guten Seiten von Patientenorganisationen im In- und Ausland, suche nach Blogs, nach heilungsorientierten Facebookgruppen, finde andere Betroffene auf Instagram und
Facebook (am besten solche, die auch auf ihrer Heilungsreise sind und dich emotional nicht runterziehen!). Lies Bücher zum Thema – Fachbücher, Heilungsgeschichten, Selbsthilfebücher -, mach
Online-Kurse oder Programme. Du musst dein eigener Experte bzw. deine eigene Expertin werden (und das ist in meinem Fall ein fortwährender Prozess)! Mach dir Notizen: Das spricht mich an, das
könnte zu mir passen, das könnte ich ausprobieren, das ist interessant, darüber will ich mehr wissen, das könnte bei mir eine Rolle spielen.
Selbst-Beobachtung
Nachdem du dir Wissen angeeignet hast, hilft es, dich selbst eine Weile zu beobachten. Was hat deine Krankheit ausgelöst? Was stresst dich? Welche belastenden und
stressreichen Ereignisse gab es in deiner Vergangenheit und Kindheit? Was verschlechtert deine Symptome? Was tut dir gut? Wie sieht deine Ernährung aus, deine Schlafgewohnheiten? Wie viel Ruhe
gönnst du dir? Was sagt dein Körper dir? Was musst und solltest du, was willst du? Wie fühlt sich dein Körper an, wenn du gerade Angst hast, wütend bist, dich traurig oder verzweifelt fühlst?
Wann hast du die meiste Energie, wann die wenigste? Bekommt dir das Frühstück? Hast du das Bedürfnis, dich zu bewegen?
Stell dir Fragen zu den Themen, die dich bei deiner Recherche am meisten angesprochen haben. Mach dir wieder Notizen. So bekommst du erste Anhaltspunkte, was du in deiner Situation, in deinem
Leben, ändern musst, was dir guttut, was dir schadet. Sicher gab es bei deiner Recherche schon zahlreiche Vorschläge, was du in Richtung Genesung unternehmen kannst. Vielleicht hast du auch schon
etwas ausprobiert. Wie bekommt dir das? Fühlt es sich gut an? Hilft es oder meinst du, es könnte helfen? Oder kannst du dich nicht so richtig damit anfreunden?
Selbst-Beobachtung und Achtsamkeit sind aus meiner Sicht extrem hilfreich, um seinen persönlichen Weg zu finden, der einem langfristig gesund macht. Ich übe mich täglich aufs Neue darin. Zum
Beispiel habe ich gestern in einem Buch etwas gelesen, wo ich sofort dachte, genau, das war bei mir ganz genauso. Plötzlich wurde mir wieder ein weiteres Puzzleteilchen präsentiert, ich schrieb
sofort in meinem Tagebuch darüber und war total dankbar, dass ich dieses Teilchen nun verstanden habe.
Aktiv werden
Der letzte wichtige Schritt heißt: Dein Wissen, alle Werkzeuge, die du nun kennst und alle Kleinigkeiten, die du über dich gelernt hast, in die Tat umsetzen. Du
musst nun aktiv werden, neue Dinge austesten, Dinge in deinem Leben ändern. Auch wenn es große Angst macht, wenn es innerlichen Widerstand erzeugt, wenn du sagst „ich kann nicht, das geht nicht,
ich schaffe das nicht“. Du kannst das! Baby-Schritt für Baby-Schritt. Jede Woche einen Baby-Schritt weiter. Einfach austesten. Was soll schon schlimmstenfalls passieren? Und was ist die
Alternative? Krank bleiben, kränker werden, das Leben verpassen? Ne, geht gar nicht, finde ich.
Bei mir hat es am letzten Schritt besonders gehapert. Ich habe mich wie eine Besessene in das Wissen vertieft, immer weiter gegraben, immer mehr verstanden, immer mehr Puzzleteile
zusammengesteckt. Den hundertsten Kurs belegt, das achtzigste Buch gelesen. Mir war dann auch klar, warum ich meine Syndrome bekommen hatte. Und ich wusste zumindest grob, wie ich mich da
herauskämpfen konnte. Ich probierte viel aus, verbesserte meinen Zustand Stück für Stück. Aber an die richtig schwierigen Sachen wollte ich mich nicht herantrauen. Ich wusste, ich muss sie
angehen, wenn ich wieder gesund werden will. Aber sie wirkten wie ein Mount Everest. Und ich hing immer noch im Basecamp fest, obwohl ich schon so viel erreicht hatte. Das frustrierte mich dann,
nervte, enttäuschte mich. Es gab unheimlich viel inneren Widerstand. Lieber noch ein Buch lesen, nochmal den Kurs machen. Und dann traue ich mir das zu. Oder doch nicht?
Kennst du das? Ja, letztendlich muss man einfach anfangen. Sich Schritt für Schritt vom Basecamp des Mount Everest zum nächsten Camp kämpfen. Ausruhen. Eventuell wieder etwas absteigen. Dann
wieder rauf. Stück für Stück. Bis man irgendwann den Gipfel sieht und denkt: Das schaffe ich jetzt auch noch irgendwie. Egal wie lange es dauert. Deshalb: Gib nicht auf! Traue dich auch an die
besonders schweren Schritte. Es sind vielleicht genau die, die den Durchbruch bringen.
PS: Natürlich recherchiere und kontrolliere ich alles, was ich hier schreibe, so gut wie möglich. Trotzdem bin ich auch nur ein Mensch und
mache Fehler. Außerdem ziehe ich vielleicht ganz andere Schlüsse wie es jemand anders tun würde. Einfach weil sie zu meiner Geschichte passen. Doch jede Geschichte ist anders.
Wichtig: Die Inhalte auf dieser Seite dienen nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Die Inhalte spiegeln meine
persönlichen Erfahrungen, Recherchen und Erkenntnisse wider, die mir geholfen haben und die ich deshalb teilen möchte. In Ihrem persönlichen Fall können jedoch ganz andere Sachen eine Rolle
spielen und andere Dinge helfen. Bitte sprechen Sie mit Ihrer Ärztin, Ihrem Arzt oder Therapeuten, bevor Sie Entscheidungen treffen, die Ihre körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Auch
wichtig: Ich möchte hier niemand von etwas überzeugen. Vielmehr möchte ich mögliche Wege aufzeigen, die hoffentlich einigen Menschen helfen können, ihr ME/CFS oder andere Syndrome zu verbessern
oder zu überwinden.