Sind ME/CFS und Fibromyalgie dasselbe?

Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 23.10.2022

 

Über 50 Prozent der Menschen mit ME/CFS haben Studien zufolge auch Fibromyalgie. Das ist eine ganze Menge. Woher kommt diese starke Überschneidung? Auch bei den Symptomen? Könnten beide Krankheiten dasselbe sein oder die gleichen Ursachen haben?

Symptome

Die charakteristischsten Symptome von ME/CFS sind: ausgeprägte Erschöpfung, Zustandsverschlechterung nach zu viel körperlicher, emotionaler oder geistiger Aktivität, Schlafstörungen, kognitive Einschränkungen, Kreislaufprobleme. Die wichtigsten Symptome des Fibromyalgie-Syndroms sind: chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafprobleme, körperliche und geistige Fatigue, kognitive Einschränkungen.

Forscherinnen und Forscher suchen natürlich nach den Unterscheidungsmerkmalen, um beide Syndrome besser voneinander abgrenzen zu können. Zum Beispiel ist das spezifischste Symptom von ME/CFS die Zustandsverschlechterung nach Aktivität, die Post Exertional Malaise. Bei der Fibromyalgie sind es die Schmerzen in mehreren Körperregionen. Und dennoch gibt es auch genügend Gemeinsamkeiten, die sich finden lassen.

Das autonome Nervensystem

Was wäre, wenn beide Syndrome denselben Ursprung haben und damit zumindest verwandt sind? Vielleicht ist es sogar die gleiche Krankheit, nur in anderer Ausprägung? Bei beiden Syndromen gibt es genügend Hinweise, dass eine Fehlregulation des autonomen Nervensystems (ANS) eine zentrale Rolle spielt. Da die Nervenfasern dieses Systems überall im Körper ihre Fühler ausstrecken und jede Organfunktion mitsteuern, ist es einleuchtend, dass es zu unterschiedlichsten Beschwerden kommen kann. Das autonome Nervensystem dient im Wesentlichen dazu, uns bei Gefahr auf Angriff oder Flucht vorzubereiten und uns dann wieder zurück in den Ruhemodus zu schicken, in dem wir ausruhen, verdauen, etc. Es ist für ein gesundes Gleichgewicht in unserem Körper unerlässlich.

Gefahrensignal im Gehirn

Ob wir in Gefahr sind oder nicht, entscheiden bestimmte Bereiche in unserem Gehirn. Sie regulieren dann entsprechend das ANS herauf oder herunter. Strömen andauernd Reize ein, die das Gehirn als Gefahr bewertet, gerät diese Regulation aus dem Lot. Wir befinden uns ständig im Flucht- oder Angriffsmodus und kommen immer seltener in den Ruhemodus. Unser Gehirn muss uns irgendwie mitteilen, dass wir in Gefahr sind. Das kann durch das Gefühl der Angst oder durch Wut geschehen, aber auch durch angstvolle Gedanken, Schmerzen, Fatigue und andere Körperempfindungen – alles bewerkstelligt über das ANS.

Das Gehirn sagt uns damit, hey, pass auf, weg hier, ändere was, vermeide das. Es speichert die Information ab, auf den speziellen Reiz, den Trigger, mit Gefühl A oder Symptom B zu reagieren. Es lernt also, so zu antworten, und macht es das nächste Mal schneller und intensiver. Irgendwann bekommen wir auch Angst vor unseren Symptomen, vor den unerträglichen Schmerzen, diesem grippeartigen Gefühl und der totalen Erschöpfung, fühlen uns frustriert, machtlos.

Wir suchen nach den Auslösern, ändern unser Verhalten, schränken uns ein. Und geraten in einen Teufelskreis. Denn die negativen Gefühle und Gedanken bezüglich der Symptome und Auslöser resultieren in einem gesteigerten Gefahrensignal im Gehirn, was die Beschwerden nur noch verstärkt. Es lernt: Oh, Bewegung ist gefährlich. Oder: Wetterwechsel sind bedrohlich. Und teilt uns das mit Schmerz, Erschöpfung oder anderen Empfindungen mit. ME/CFS und Fibromyalgie könnten also eine Überreaktion des Gehirns auf äußere und innere Reize sein.

Brain Training

Diese These ist nicht meine eigene Entdeckung, sondern die anderer Menschen, die solchen mit Fibromyalgie und ME/CFS helfen, wieder gesund zu werden. Durch spezielle Techniken lässt sich das Gehirn wieder umtrainieren. Es lernt wieder, hey, Bewegung und Wetterwechsel sind doch nicht gefährlich, es ist alles okay. Ich brauche keine Symptome mehr zu senden. Das ist Brain Training. Und der Mechanismus dahinter Neuroplastizität.

Mir ist bewusst, dass mein Erklärungs-Szenario nicht unbedingt dem entspricht, was in der Öffentlichkeit zu diesen Syndromen verbreitet wird. Da ist doch die Rede von Autoantikörpern, von beschädigten kleinen Nervenfasern, von Mitochondrien? Völlig richtig. Aber eben auch von einem fehlgeleiteten ANS. Ich denke, die ganzen winzigen Details, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen entdecken, machen Sinn. Denn, wenn Gehirn, Geist, Nervensystem, Immunsystem, Hormone und Körper nicht gut zusammenarbeiten oder sich falsch verstehen, bringt das jede Zelle im Körper durcheinander. Und ganz wichtig: Das bedeutet nicht, dass du schuld an deiner Krankheit bist, du dir alles nur einbildest oder alles „nur psychosomatisch“ ist. Es ist einfach eine erlernte Reaktion deines Gehirns, das dich auf diese Weise eigentlich nur beschützen möchte.

 

 

PS: Natürlich recherchiere und kontrolliere ich alles, was ich hier schreibe, so gut wie möglich. Trotzdem bin ich auch nur ein Mensch und mache Fehler. Außerdem ziehe ich vielleicht ganz andere Schlüsse wie es jemand anders tun würde. Einfach weil sie zu meiner Geschichte passen. Doch jede Geschichte ist anders.

Wichtig: Die Inhalte auf dieser Seite dienen nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Die Inhalte spiegeln meine persönlichen Erfahrungen, Recherchen und Erkenntnisse wider, die mir geholfen haben und die ich deshalb teilen möchte. In Ihrem persönlichen Fall können jedoch ganz andere Sachen eine Rolle spielen und andere Dinge helfen. Bitte sprechen Sie mit Ihrer Ärztin, Ihrem Arzt oder Therapeuten, bevor Sie Entscheidungen treffen, die Ihre körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Auch wichtig: Ich möchte hier niemand von etwas überzeugen. Vielmehr möchte ich mögliche Wege aufzeigen, die hoffentlich einigen Menschen helfen können, ihr ME/CFS oder andere Syndrome zu verbessern oder zu überwinden.

 

quellen

Jesús Castro-Marrero, Mónica Faro, Luisa Aliste, Naia Sáez-Francàs, Natalia Calvo, Alba Martínez-Martínez, Tomás Fernández de Sevilla, Jose Alegre, Comorbidity in Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic Encephalomyelitis: A Nationwide Population-Based Cohort Study, Psychosomatics 2017

Deutsche Schmerzgesellschaft: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms

Institute of Medicine (IOM): Beyond ME/CFS – A guide for clinicians, 2015

Howard Schubiner: Unlearn your Pain/Anxiety and Depression

Dan Neuffer: CFS Unravelled

Alan Gordon: The Way Out