Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 22.01.2022, aktualisiert: 20.01.2023
Fatigue zu definieren ist gar nicht so einfach. Fatigue stammt vom lateinischen Wort Fatigatio, was so viel wie Ermüdung heißt. Ein Mensch, der Fatigue empfindet,
spricht meist von einer ausgeprägten Erschöpfung, einem Schwächezustand, der sich durch Ruhe und Schlaf nicht bessert. Die Erschöpfung wirkt sich nicht nur körperlich, sondern auch geistig und
emotional aus. Sie schränkt einem deutlich im Alltag ein. Sie kann einem daran hindern, eine Aktivität zu beginnen und man fühlt sich sehr schnell durch eine Aktivität erschöpft.
Fatigue ist ein Symptom, das viele Ursachen haben kann. Häufig sprechen Ärztinnen und Ärzte auch vom Fatigue-Syndrom, weil sich dieser Zustand durch viele Einzelsymptome beschreiben lässt. Zum
Beispiel: Extreme Müdigkeit, Probleme, sich zu konzentrieren und Sachen zu merken, langsamere Reaktionsfähigkeit, körperliche Schwäche, gedrückte Stimmung, Schläfrigkeit.
Fatigue kann akut auftreten und chronisch verlaufen.
Spricht ein Mensch davon, dass er erschöpft ist, bekommt er häufig zur Antwort „Oh ja, ich bin auch ständig müde“. Aus meiner Sicht gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen Müdigkeit und Erschöpfung. Man ist nach einer schlechten Nacht müde, nach einem langen Arbeitstag oder nach dem Sport. Das ist normal. Dann ruht man sich aus und fühlt sich wieder fit, hat Kraft, kann klar denken, seinen Alltagstätigkeiten nachgehen. Nicht so bei einem Mensch, der an Erschöpfung leidet. Er fühlt sich permanent wie „Akku leer“, jede kleine Alltagstätigkeit stellt einen extremen Kraftakt dar, man fühlt sich total ausgelaugt, wie ein Zombie. Und der Akku lässt sich einfach nicht voll aufladen, egal wie viel Ruhe und Schlaf man sich gönnt.
Zahlreiche Krankheiten können diesen andauernden Erschöpfungszustand hervorrufen. Unter anderem:
Auch Medikamente können zu Fatigue führen.
Was im Körper genau bei Erschöpfung passiert, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch nicht herausgefunden. Vieles weist aber daraufhin, dass das
Immunsystem eine Rolle spielt. Jeder kennt die Erschöpfung, wenn man eine Erkältung oder Grippe hat. Die Infektion aktiviert das Immunsystem, das löst eine Entzündung aus, um den Erreger zu
bekämpfen. Entzündungsbotenstoffe im Gehirn machen uns müde, „matschig“, erschöpfen uns, wir sind schlecht drauf, wollen uns hinlegen und unsere Ruhe haben. Dieses vom Körper sinnvolle Verhalten
nennt man im Englischen „sickness behavior“. Es spielt vermutlich immer dann eine Rolle, wenn im Körper eine Entzündung vorliegt.
Zweitens hat das autonome Nervensystem einen Einfluss auf Fatigue, besonders wenn es aus der Balance geraten ist. Auch hier kann das Nervensystem einen Schutzmechanismus herauffahren, wenn es
über zu lange Zeit übermäßig angeregt wurde. Es zwingt den Körper dann in einen sogenannten „shutdown“.
Das Kürzel ME/CFS steht für: Myalgische Enzephalomyelitis und Chronisches Fatigue Syndrom. Manche sprechen auch vom chronischen Erschöpfungssyndrom oder Müdigkeitssyndrom. Amerikanische Wissenschaftler haben vorgeschlagen, die Krankheit systemische Belastungsintoleranz-Krankheit (SEID) zu nennen.
Da viele Patientenorganisationen den Begriff ME/CFS bevorzugen, wähle auch ich ihn. ME/CFS wurde schon 1969 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als neurologische Erkrankung eingestuft, also als Erkrankung des Nervensystems. Es ist keine psychische Krankheit.
In vielen Fällen hat eine Infektion die Krankheit ausgelöst, zum Beispiel eine mit dem Epstein-Barr-Virus, Grippe-, Entero- oder Coronaviren. Aber auch Bakterien und andere Erreger kommen infrage.
Manchmal beginnt ME/CFS auch nach einem Unfall, einer Operation, weil jemand Umweltgiften ausgesetzt ist oder eher schleichend ohne ein bestimmtes Ereignis.
Stress spielt als Trigger eine wichtige Rolle.
Was genau ME/CFS verursacht, ist nicht bekannt. Forscher finden aber immer mehr Auffälligkeiten, die beim Krankheitsmechanismus eine Rolle spielen könnten. Dazu gehören Veränderungen im Immunsystem, Hormonsystem, Herz-Kreislaufsystem, autonomen Nervensystem, im Darm und im Energiestoffwechsel. Eine genetische Veranlagung erhöht das Risiko, ME/CFS zu bekommen.
Diese drei Symptome müssen vorliegen:
Zusätzlich müssen entweder kognitive Probleme bestehen, also zum Beispiel Wortfindungsstörungen, Vergesslichkeit, „Benebeltsein“ ( = Brainfog). Oder es liegt eine orthostatische Intoleranz vor, also bestimmte Beschwerden, wenn man sich von einer liegenden in eine sitzende Position begibt, oder in eine stehende.
Viele Betroffene, inklusive ich selbst, haben eine langjährige Ärzte-Odyssee hinter sich, bis sie die Diagnose ME/CFS bekommen. Das liegt zum Einen daran, dass sich viele Ärztinnen und Ärzte nicht damit auskennen. Die mediale Aufmerksamkeit durch Long Covid wird das hoffentlich ändern. Zum Anderen sind die Beschwerden (bis auf die Post Exertional Malaise) eher unspezifisch und können von vielen Krankheiten hervorgerufen werden. Das bedeutet oft, dass viele andere mögliche Ursachen ausgeschlossen werden müssen. Bleibt quasi nichts anderes übrig, passen die Symptome und die Geschichte des Patienten, dann kann ein erfahrener Arzt oder eine Expertin die Diagnose stellen.
Dann hat man endlich eine Diagnose und fängt allerspätestens da das Googeln an. Schnell lernt man, wenn es nicht die Ärztin oder der Arzt bereits erklärt hat, was
Pacing ist und weshalb das so wichtig bei ME/CFS ist. Pacing heißt so viel wie: Kenne dein tägliches Energiefenster und bleibe möglichst darin. Das kann furchtbar einschränkend sein und für eher
mild Betroffene bedeuten, die meiste Zeit des Tages zu sitzen, vielleicht nicht mehr arbeiten zu können, sich zu überlegen, ob man heute duscht oder die Waschmaschine befüllt. Schwerer betroffene
Menschen sind nicht selten bettlägerig und auf Hilfe angewiesen.
Neben Pacing versuchen Viele, sich mit zahlreichen Nahrungsergänzungsmitteln zu helfen, die den Energiestoffwechsel verbessern sollen. Manche müssen Schmerzmittel
oder Schlaftabletten nehmen, andere niedrig dosierte Antidepressiva (gegen Schmerzen).
Derzeit gibt es keine wissenschaftlich anerkannte Therapie gegen ME/CFS, die Schulmediziner einsetzen. Es gibt jedoch einige Medikamente und Verfahren, die im Test
sind.
Es herrscht eine höchst widersprüchliche Debatte darüber, ob es möglich ist, sich von ME/CFS wieder vollständig zu erholen. Es gibt nur wenige Studien und
Übersichtsarbeiten, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Eine Übersichtsarbeit zeigt: Innerhalb von drei Jahren haben sich 4,5 bis 83 Prozent der an ME/CFS erkrankten Kinder und Jugendlichen
wieder erholt. Eine andere Analyse ergab: Im Mittel sind fünf Prozent der Erkrankten wieder ganz gesund geworden und 39,5 Prozent haben ihren Zustand verbessert. Eine Langzeitstudie an Kindern
und Jugendlichen zeigte, dass innerhalb von 10 Jahren 68 Prozent wieder genesen waren.
Dass die Ergebnisse so stark voneinander abweichen liegt unter anderem daran, dass die Studien nicht einheitlich gemacht wurden und es unterschiedliche Kriterien gab, wann jemand als genesen
galt. Außerdem gibt es keine Marker, mit denen man sagen könnte: Wert wieder normal, Mensch gesund. Es ist vielmehr eine ganz persönliche Definition und Einschätzung.
Dennoch findet man im Internet immer mehr Menschen, die es geschafft haben, wieder gesund zu werden und ihre Geschichte teilen.
Wichtig: Die Inhalte auf dieser Seite dienen nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Die Inhalte spiegeln meine persönlichen Erfahrungen, Recherchen und Erkenntnisse wider, die mir geholfen haben und die ich deshalb teilen möchte. In Ihrem persönlichen Fall können jedoch ganz andere Sachen eine Rolle spielen und andere Dinge helfen. Bitte sprechen Sie mit Ihrer Ärztin, Ihrem Arzt oder Therapeuten, bevor Sie Entscheidungen treffen, die Ihre körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Auch wichtig: Ich möchte hier niemand von etwas überzeugen. Vielmehr möchte ich mögliche Wege aufzeigen, die hoffentlich einigen Menschen helfen können, ihrvME/CFS oder andere Syndrome zu verbessern oder zu überwinden.
Institute of Medicine (IOM): Beyond ME/CFS – A guide for clinicians, 2015
MRI Chronisches Fatigue Centrum München: https://www.muenchen-klinik.de/krankenhaus/schwabing/kinderkliniken/kinderheilkunde-jugendmedizin/spezialgebiete-kinder-klinik/chronische-fatigue/
US ME/CFS Clinician Coalition: Leitfaden für die Diagnose und Behandlung von ME/CFS, 2019
Moore Y et al: Recovering from Chronic Fatigue Syndrome: A systematic review. Arch Dis Child 2021
Cairns R, Hotopf M: A systemativ review describing the prognosis of CFS. Ocuup Med 2005
Rowe KS: Long term follow up of young people with CFS attending a pediatric outpatient service. Front Pediatr 2019
Deutsche Fatigue Gesellschaft: Was ist Fatigue? Online: https://deutsche-fatigue-gesellschaft.de/fatigue/was-ist-fatigue/
Health direct: Fatigue. Online: https://www.healthdirect.gov.au/fatigue
Pschyrembel Online: https://www.pschyrembel.de/fatigue/K0R64/doc/
Charité Fatigue-Centrum: https://cfc.charite.de/fuer_aerzte/veroeffentlichungen/
Christian Schubert: Was uns krank macht, was uns heilt. Korrektur Verlag 2021