Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 11.05.2022, aktualisiert: 20.02.2023
Du bist als Kind das erste Mal im Schwimmbad, trägst Schwimmflügel, strampelst und planschst im Wasser, ziemlich unbeholfen und ängstlich. Irgendwann bewegst du
dich gekonnt durchs Wasser, ohne darüber nachzudenken. Du kannst schwimmen. In deinem Gehirn haben sich Nervennetzwerke gebildet, die alle Bewegungsabläufe, Atmung, usw. gespeichert haben. Dein
Gehirn hat Schwimmen gelernt. Das ist Neuroplastizität. Das ist Gehirntraining („Braintraining“).
Du lernst in der Schule eine Fremdsprache, benutzt sie jahrelang nicht mehr, verlernst sie. Dann beschäftigst du dich wieder damit und plötzlich fallen dir immer mehr Wörter wieder ein. Die
Nervennetzwerke in deinem Gehirn sind noch da, du reaktivierst sie. Das ist Gehirntraining, Wiedererlernen („Brain-Retraining“). Dasselbe passiert in deinem Schädel, wenn du einen Schlaganfall
hattest und wieder lernern musst, wie man spricht.
Dein Gehirn lernt aber nicht nur Nützliches, sondern auch weniger Hilfreiches. Zum Beispiel: Negative Glaubenssätze, Angst vor einem Vortrag, Angst vor bestimmten Aktivitäten, Bewegung,
Schmerzen, Körperempfindungen, Menschen, Gefühlen. Auch das ist Neuroplastizität. Auch das ist Gehirntraining.
Wenn du eine Körper-Geist-Gehirn-Störung hast, also ein Mind-Body-Syndrom wie ME/CFS, Long Covid, Reizdarm, PTBS, Fibromyalgie, oder eine Angststörung oder Depression, dann hat dein Gehirn gelernt, extrem schnell in den Überlebensmodus zu gehen oder gleich ganz darin zu bleiben. Es stuft Reize aus deinem Körperinneren, aus der Außenwelt, aus sozialen Interaktionen als Gefahr ein. Es aktiviert dein autonomes Nervensystem, sich auf Kampf, Flucht, Erstarrung oder Kollaps vorzubereiten. Und das macht alle möglichen Symptome – von Fatigue über Blähbauch bis zu chronischen Schmerzen. Du bekommst Angst vor den Symptomen, die Ärzte finden nichts, sagen „alles im Kopf“, das macht noch mehr Angst, Wut, Selbstzweifel. Das triggert dein überreiztes Hirn weiter. Das aktiviert das Nervensystem. Das macht die Symptome, und so weiter. Ein Teufelskreis. Den du wiederum mit Gehirntraining durchbrechen kannst.
Im Wesentlichen geht es aus meiner Sicht darum, dem Gehirn klarzumachen, dass man in 95 Prozent der Zeit sicher ist (ist das bei dir nicht der Fall, etwa wegen
häuslicher Gewalt, musst du dich dringend in Sicherheit bringen!). Es geht darum, das Toleranzfenster auszudehnen, ab dem beide Teile des autonomen Nervensystems einen internen oder externen
Stimulus als Gefahr einstufen. Man muss es schaffen, den Organismus aus dem Überlebensmodus herauszuholen und in den Heilungsmodus zu bringen. Sympathikus und Parasympathikus ermöglichen es uns,
körperlich und geistig aktiv zu sein, sozial zu sein, uns auszuruhen, Kraft zu tanken, Nahrung zu verdauen, erholsam zu schlafen – wenn sie in Balance sind. Ich sage immer: It's all about
balance!
Es geht nun darum, die bisherigen Datenautobahnen (Gefahrenmodus) im Gehirn zu Nebenstraßen zu machen und neue Autobahnen (Sicherheitsmodus) zu kreieren, die jetzt nur kleine Nebenstraßen sind.
Durch Neuroplastizität können wir neue Verhaltensweisen lernen und alte ablegen, uns gesündere Gespräche mit uns selbst aneignen, unseren Lebensstil ändern, Dinge nicht bewerten, sondern einfach
erstmal wahrnehmen. Wir können lernen, anders mit Stressfaktoren umzugehen, Symptome erstmal nur als Körperempfindungen wahrzunehmen. All das erfordert viel Kraft, Selbstvertrauen, Hartnäckigkeit
und Zeit.
Wir können die Art beeinflussen, wie wir über uns selbst sprechen. Wir können uns sagen „ich bin sicher“. Wir können meditieren und Achtsamkeit trainieren, unsere Symptome und Emotionen einfach
wahrnehmen, unseren Geist beruhigen. Wir können schöne Dinge aus der Vergangenheit visualisieren oder uns schöne Dinge in der Zukunft vorstellen. Wir können einen imaginären Ort kreieren, an dem
wir zu 100 Prozent sicher sind und an den wir uns in Gedanken immer begeben können. Wir können uns positive Affirmationen sagen.
Auch durch gezieltes Beeinflussen unserer Atmung, Muskelspannung, Körperhaltung beeinflussen wir das Gehirn und Nervensystem. All diese Dinge nimmt der Vagusnerv wahr und sendet sie an die
zentralen Schaltzentren. Eine ruhige, tiefe Atmung, entspannte Muskeln, eine aufrechte Körperhaltung, melodische Laute und Klänge, eine angenehme Stimme signalisieren Sicherheit. Deshalb sind
Techniken wie Yoga, Progressive Muskelentspannung, Feldenkrais, Atemübungen, Singen, Summen, aber auch EFT-Tapping (Emotional Freedom Technique) so sinnvoll.
Wichtig: Solange der Körper im Überlebensmodus ist, kannst du noch so sehr dein Denken und Verhalten ändern wollen, es klappt nicht. Es klappt erst, wenn sich dein Körper sicher fühlt – zumindest
zeitweise. Du kannst dir sagen „ich bin sicher“, aber solange du total angespannt bleibst, bringt der Satz überhaupt nichts. Sagst du ihn, atmest parallel tief aus und entspannst gezielt deine
Muskeln, dann kommt das Signal „Sicherheit“ im Gehirn an.
Neben diesen Techniken ist es für unser Sicherheitsgefühl unabdingbar, uns mit anderen Menschen zu verbinden, die uns guttun. Ob wir mit ihnen reden, lachen, singen, spielen, etwas unternehmen,
heulen, uns auskotzen. Auch Haustiere können dieses Sicherheitsgefühl herstellen. Und, wenn wir uns mit der Natur verbinden. Schon wenige Minuten in der Natur reichen aus, um dein Nervensystem zu
regulieren. Sogar das Ansehen von Naturbildern! Deshalb habe ich ein kleines Video dazu mit eigenen Fotos erstellt:
Es gibt unglaublich viele Wege, dein Gehirn wieder in den Sicherheitsmodus zu bringen. Du musst nur die finden, die am besten zu dir passen.
Weitere Genesungsstrategien: Wissen aneignen, das richtige Mindset haben, innere Arbeit, Lebensstiländerungen.
PS: Natürlich recherchiere und kontrolliere ich alles, was ich hier schreibe, so gut wie möglich. Trotzdem bin ich auch nur ein Mensch und
mache Fehler. Außerdem ziehe ich vielleicht ganz andere Schlüsse wie es jemand anders tun würde. Einfach weil sie zu meiner Geschichte passen. Doch jede Geschichte ist anders.
Wichtig: Die Inhalte auf dieser Seite dienen nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Die Inhalte spiegeln meine
persönlichen Erfahrungen, Recherchen und Erkenntnisse wider, die mir geholfen haben und die ich deshalb teilen möchte. In Ihrem persönlichen Fall können jedoch ganz andere Sachen eine Rolle
spielen und andere Dinge helfen. Bitte sprechen Sie mit Ihrer Ärztin, Ihrem Arzt oder Therapeuten, bevor Sie Entscheidungen treffen, die Ihre körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Auch
wichtig: Ich möchte hier niemand von etwas überzeugen. Vielmehr möchte ich mögliche Wege aufzeigen, die hoffentlich einigen Menschen helfen können, ihr ME/CFS oder andere Syndrome zu verbessern
oder zu überwinden.
Dan Neuffer: CFS Unravelled
Alex Howard: Decode your Fatigue
Dr. Howard Schubiner: Unlearn your Anxiety and Depression
Alan Gordon: The Way Out
Joe Dispenza: Du bist das Placebo
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