Wie Stress und Traumata das Gehirn und Nervensystem verändern

Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 25.04.2023

 

Aus meiner Sicht sind Erkrankungen wie ME/CFS, Fibromyalgie, Reizdarm, Long Covid und POTS die Folgen von chronischem Stress, Traumata und belastenden Kindheitserfahrungen.

Über das Thema könnte ich Bände schreiben. Ich versuche hier, einen Mini-Überblick zu geben, damit du die aus meiner Sicht wichtigsten Punkte verstehst. Mehr Details findest du unter der Strategie „Wissen aneignen“.

 

In diesem Video habe ich eine kleine Präsentation für dich gemacht, um die Inhalte zusammenzufassen:

 

 

Oder Inhalt auf Spotify und Anchor anhören:

 

Was ist Stress?

Es gibt verschiedene Definitionen, aber Stress ist vor allem eins: sehr individuell.
Typischerweise empfindet man etwas als stressig, das man subjektiv nicht bewältigen kann, das einem bedroht und überfordert, über das man wenig Kontrolle hat und wenig Einfluss, das man nicht versteht und dessen Ausgang ungewiss ist.

Stress entsteht als Antwort auf einen Stressfaktor, einen Stressor, und wirkt sich körperlich, emotional, geistig und auf der Verhaltensebene aus. Stressoren sind typischerweise neuartig, intensiv, unvorhersehbar und unkontrollierbar. Ich unterteile sie in äußere und innere Stressauslöser. Äußere Faktoren können mit der Arbeit zusammenhängen, zum Beispiel Zeitdruck, hohe Anforderungen und wenig Handlungsspielraum. Sie können aber auch privater Natur sein, wie Beziehungskonflikte, ungesunder Lebensstil, viele Verpflichtungen, aber auch Krankheitserreger sind Stressoren. Innere Faktoren sind unter anderem Persönlichkeitsmerkmale wie Perfektionismus oder nicht Nein sagen können. Die wichtigsten Stressfaktoren sind emotionaler Natur.

Chronisch bestehender Stress macht krank.

Was sind Traumata?

Auch Traumata lassen sich schwer definieren und sind etwas sehr Individuelles. Traumaforscher sagen aber: Trauma ist nicht das Ereignis selbst, sondern das, was es mit dir macht. Es spaltet dich ab von dir selbst ab, deinem Körper, deinen Gefühlen, der Welt. Du fühlst dich nicht mehr verbunden. Du steckst in der Vergangenheit fest.

Der Übergang zwischen Stress und Trauma ist nach meinem Verständnis fließend und was ein Mensch als stressig empfindet, ist für den anderen traumatisch.

Traumatisch sind Ereignisse wie Krieg, emotionaler, sexueller oder körperlicher Missbrauch, schwere Verletzungen, Unfälle oder Naturkatastrophen. Aber auch das Gefühl, nicht geliebt zu werden, sich verlassen und nicht gewollt zu fühlen, können traumatische Folgen haben.

Eine besondere Rolle bei chronischem Stress und Traumata spielen belastende Kindheitserlebnisse, wie die US-amerikanische ACE-Studie zeigt. ACE steht für adverse childhood experiences. Demnach erhöhen traumatische und stressige Kindheitserfahrungen wie die oben genannten das Risiko für Erkrankungen wie Krebs, Autoimmunkrankheiten, Depression, Magen-Darm-Erkrankungen, Migräne, Herz-Kreislauf-Leiden, Schlaganfall, Diabetes, ME/CFS, Fibromyalgie, Reizdarm, Angststörungen sowie einen ungesunden Lebensstil.

Psychoneuroendokrinoimmunologie: Wie wirkt sich das aus?

Chronischer Stress, Traumata und belastende Kindheitserfahrungen wirken sich auf Körper, Geist und Gehirn aus. Sie verändern dein Gehirn, deine Psyche, dein autonomes Nervensystem, dein Hormonsystem, dein Immunsystem und das Herz-Kreislauf-System. Deshalb spreche ich so gerne von Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie, diesem medizinischen Forschungsbereich, der erklärt, warum alles mit allem zusammenhängt.

Alle Reize und Informationen aus deiner Außenwelt und Innenwelt gelangen zu bestimmten Nervennetzwerken in verschiedenen Regionen deines Gehirns. Dort werden sie gesammelt und bewertet. Die Bewertung lautet in erster Linie: sicher oder gefährlich. Denn eine der wichtigsten Aufgaben deines Hirns und Nervensystems ist, dich zu beschützen, dein Leben zu sichern. Das löst dann je nach Bewertung eine ganze interne Kaskade aus.

Das Nervensystem besteht aus verschiedenen Teilen. Uns interessiert aber das autonome Nervensystem. Es steuert zahlreiche Körperfunktionen und funktioniert weitgehend unwillkürlich und unbewusst, also autonom. Es besteht aus dem Sympathikus und dem Parasympathikus, die beide in einem gesunden und einem ungesunden Zustand sein können. Der Parasympathikus, auch Vagusnerv genannt, besteht laut der Polyvagal-Theorie aus zwei Ästen: dem evolutionsgeschichtlich älteren dorsalen Vagus und dem neueren ventralen Vagus. Der dorsale Vagus ist im gesunden Zustand für Ruhe und Verdauung verantwortlich, der ventrale Vagus für Sicherheit und Verbundenheit. Das autonome Nervensystem ist in engem Austausch mit dem  Darmnervensystem und dem Nervensystem des Herzens.

Wird eine Information als sicher eingestuft, bleibt das autonome Nervensystem im Ruhemodus, wir sind entspannt, verdauen, fühlen uns verbunden, sind sozial engagiert und empfinden angenehme Emotionen wie Freude. Der ventrale Vagus und der dorsale Vagus in seinem gesunden Zustand sind aktiv. Oder wir sind aktiv und kreativ, aber fühlen uns trotzdem sicher. Das machen dann der Sympathikus in seinem gesunden Zustand und der ventrale Vagus.

Wird eine Information als Gefahr bewertet – Stress und Traumata sind Gefahrensignale -, springt der Sympathikus in die Strategien Angriff oder Flucht, wir sind angespannt und empfinden unangenehme Emotionen wie Angst oder Wut. Kurzzeitig ist das sinnvoll, auf Dauer aber ungesund. Wenn wir überwältigt sind von der Situation und kein Entrinnen möglich ist aus unserer subjektiven Einschätzung, dann springt der dorsale Vagus in seinen auf Dauer ungesunden Zustand, der uns in eine Art Abschaltmodus versetzt. Alles wird heruntergefahren. Hier kommt es zu Emotionen wie Scham und Trauer. Es kann auch sein, dass Sympathikus und dorsaler Vagus gleichzeitig sehr aktiv sind – das ist dann dieses Gefühl von aufgedreht und todmüde zugleich. Die Übergänge zwischen den Zuständen sind fließend.

Um diese Mechanismen in Gang zu setzen, sind die Nervenfasern des autonomen Nervensystems mit allen inneren Organen verbunden, mit der Muskulatur, Geweben und Zellen. Bei Gefahr springt die sogenannte Stressachse an, über die Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin, die zum autonomen Nervensystem gehören, und Cortisol ausgeschüttet werden. Sie lösen die Stressreaktion im Körper aus. Das zeigt sich unter anderem durch erweiterte Pupillen, schnellere Atmung, erhöhten Puls und Blutdruck sowie verminderte Verdauung. Das Immunsystem wird aktiviert oder unterdrückt. Das Ganze beeinflusst unser Denken und Fühlen.

Das heißt, jede Information aus unserer Außenwelt und Innenwelt löst je nach Bewertung im Gehirn eine ganze Kaskade von Reaktionen in Körper und Geist aus. Und deshalb spreche ich bei Syndromen wie ME/CFS oder Fibromyalgie auch von Mind-Body-Syndromen.

Wichtig: Die Aussagen in diesem Text sind das Ergebnis meiner Recherchen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, Fachartikeln, Büchern, Kursen, Aus- und Weiterbildungen sowie meines eigenen Genesungsprozesses. Ich habe bestmöglich recherchiert, erhebe aber dennoch keinen Anspruch auf Richtigkeit. In der Wissenschaft gilt etwas solange als Hypothese, bis es eindeutig belegt (oder widerlegt) ist. Das ist dann Evidenz, ein Fakt. Die Aussagen in diesem Text sind eine Kombination aus Hypothesen und Fakten.
 
Die Inhalte auf dieser Seite dienen außerdem nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Bitte sprich mit deiner Ärztin, deinem Arzt oder Therapeuten, bevor du Entscheidungen triffst, die deine körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Jeder Weg in ein Mind-Body-Syndrom ist etwas Individuelles, und jeder Weg heraus.