ME/CFS: Kathrins Weg zur Genesung

 

Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 28.05.2022

 

Kathrin Frischmann lebt in Tirol in Österreich und ist Sozialarbeiterin, psychologische Beraterin, Kreativtrainerin und Trainerin für Psychoneuroimmunologie. Sie stuft sich selbst als 80 bis 90 Prozent genesen ein. Seit ein paar Monaten fühle sie sich richtig gut und seit wenigen Wochen sei sie sogar symptomfrei. Sie denkt, dass aber bestimmt noch mal ein Crash kommt, weshalb sie sich noch nicht als 100 Prozent gesund einstufen möchte. Es sei alles noch so frisch. Ich kann das sehr gut verstehen. Hier erzählt sie mir, was ihr alles auf ihrer Reise zur Genesung von ME/CFS geholfen hat.

Dr. Martina Melzer: Hallo Kathrin, vielen Dank, dass du dir Zeit für mich nimmst. Ich bin schon sehr gespannt!

Kathrin Frischmann: Sehr gerne. Ich fühle mich geehrt.

Was hat dein Chronisches Fatigue Syndrom denn ausgelöst? Häufig gibt es ja ein bestimmtes Ereignis, zum Beispiel eine Infektion, oder ein stressiger Lebensabschnitt.

Es ging vor etwa viereinhalb Jahren los. Mein Sohn war damals neun Monate alt, ich hatte ungefähr alle zwei Wochen einen Infekt oder das Gefühl, eine Grippe zu bekommen. Das ging ein halbes Jahr so. Ich bin dann trotzdem wieder in die Arbeit, in einen intensiven Job als Sozialarbeiterin. Aber das ging nicht gut. Ich ging dann zu Ärzten, es wurde eine EBV-Reaktivierung festgestellt, eine Borreliose, eine Impfung bekam ich auch noch. Durch die Geburt spielten vielleicht auch die Hormone eine Rolle. Ich denke, es war also eher weniger ein einzelnes Ereignis, sondern eher das Zusammenkommen dieser ganzen Faktoren.

Das klingt heftig.

Ja, ich war wie im Kampfmodus. Ich schleppte mich in die Arbeit, kümmerte mich um meinen Sohn und musste sonst nur ausruhen. Mir ging es kontinuierlich schlechter.

Wenn du jetzt zurück blickst: Hattest du eventuell einen Lebensstil, bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder gab es Ereignisse, die dich möglicherweise anfälliger für ME/CFS gemacht haben?Ich möchte damit in keinster Weise andeuten, dass du „schuld“ an deiner Erkrankung sein könntest. Vielmehr höre und lese ich so oft, dass die Geschichte eines Menschen, sein Leben, seine Anfälligkeit für Krankheit A oder B erhöhen kann.

Ja, auf jeden Fall gab es das. Es war eigentlich klar, dass ich irgendwann sowas bekomme. Kennst du das Buch Decode Your Fatigue von Alex Howard (ja, kenne ich)? Da beschreibt er bestimmte Persönlichkeitsmerkmale. Ich war zum Beispiel sehr ehrgeizig, konnte nie Ruhe geben, bin immer krank arbeiten gegangen. Das war nicht gut.

Als ich für den Antrag auf Schwerbehinderung meine ganzen Symptome auflisten musste, kam ich auf ungefähr 48. Was waren deine hauptsächlichen Beschwerden?

Schlimm war dieses permanente Krankheitsgefühl, das war mein „Hass-Symptom“ Nr.1. Und die Post Exertional Malaise (PEM), diese Zustandsverschlechterung. Ich hatte viele Schmerzen, im Kiefer, in den Ohren, am Hals, der Wirbelsäule. Und ich hatte eine ausgeprägte Muskelschwäche. Ich war teilweise so schwach, dass ich meinen Sohn auf dem Boden sitzend anziehen musste, weil ich einfach nicht mehr auf die Beine kam. Nachtschweiß war ein Problem. Ich musste manchmal zweimal das T-Shirt wechseln und fühlte mich morgens wie überfahren.

Ich kriege Gänsehaut, wenn du das erzählt. Ich weiß genau, was du meinst. Wie hat sich die PEM bei dir geäußert?

Es war ein extremes Krankheitsgefühl, ich war extrem schwach, musste immer liegen. Ich musste mich einmal im Bad auf den Boden legen, weil nichts mehr ging.

Eine Zusammenfassung des Interviews kannst du dir auf meinem YouTube-Kanal ansehen:

 

Oder auf Spotify und Anchor anhören:

 

Wie lange hat es gedauert, bis du die Diagnose bekommen hast?

Ich bin ungefähr zweieinhalb Jahre von Ärztin zu Arzt gerannt, niemand wusste was ich habe, ich war verzweifelt. Was hatte ich bloß? Dann war ich an der Uni Innsbruck. Die Ärzte diagnostizierten eine Fatigue-Erkrankung. Sie waren sich jedoch uneinig, ob es eine sehr lange postvirale Fatigue oder „schon“ ME/CFS war. Aus Sicht der Infektiologin und der Neurologin in Innsbruck handelte es sich klar um ME/CFS. Der ME/CFS-Spezialist in Wien sagte, dass ich zwar die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllen würde, mich aber eher im Bereich der postviralen Fatigue einstufen würde, da sich bei mir recht klar das EBV-Virus als ein auslösender Faktor zeigte.

War das für dich eine Erleichterung oder eher ein Schock?

Ich war geschockt. Es war quasi der Tiefpunkt.

Warum?

Naja, ich googelte vorher schon in Richtung ME/CFS. Da hieß es: nicht heilbar, keine Therapien, vielleicht wird man Pflegefall. Das war richtig schlimm für mich.

Das kann ich sehr gut verstehen. Wie lange hattest du die Krankheit, wie schwer warst du betroffen und hattest du noch eine der typischen Begleiterkrankungen wie POTS oder Fibromyalgie?

Insgesamt viereinhalb Jahre würde ich sagen. Ich denke, ich war moderat betroffen. Noch fähig, mich daheim fortzubewegen und meinen Sohn in den Kindergarten zu bringen, aber weitgehend hausgebunden. Ich hatte noch POTS.

Warst du noch arbeitsfähig?

Irgendwann nicht mehr. In Österreich besteht die Möglichkeit, eine sogenannte Bildungskarenz zu nehmen. Das setzt man ein Jahr mit der Arbeit aus, um eine Ausbildung zu machen. In der Zeit habe ich mich mit dem Kreativtraining und der Psychoneuroimmunologie beschäftigt. Das konnte man weitgehend online von zu Hause machen. Danach bin ich nicht mehr zurück in meinen alten Job. Es gab da einen Tag, meinen Geburtstag, an dem ich nur noch heulte. Ich beschloss: Ich wollte 100 Prozent wieder gesund werden. Ich lebte von meinen Ersparnissen und mein Mann und meine Eltern unterstützten mich sehr.

ME/CFS gilt als chronische, nicht heilbare Krankheit, bei der es keine anerkannten Therapien gibt. Wie bist du auf das Thema Genesung gekommen?

Ich habe Raelan Agle auf YouTube gefunden und mir alle Recovery Stories auf ihrem Kanal angeschaut! Sie hat auch eine tolle Facebookgruppe. Das war mein Wendepunkt. Und ich kaufte viele Bücher, zum Beispiel das von Dr. Sarah Myhill.

Raelan Agle ist der Wahnsinn (wir bekommen beide Gänsehaut und driften kurz ab). Wie ging es dann weiter? Was hast du alles gemacht, was hat dir geholfen?

Sehr viel habe ich gemacht, wirklich viel. Total hilfreich war das Programm ANS Rewire von Dan Neuffer. Es ist sehr umfangreich, enthält ungefähr 40 Videos, vermittelt unheimlich viel Wissen. So verstand ich was ich habe und verlor auch die Angst vor den Crashs. Ich wusste, es wird wieder besser, es bleibt nicht so. Das war psychisch sehr entlastend. Ich war nur ein bisschen nachlässig mit dem Brain Training muss ich zugeben.

Dann fand ich die Liz Carlson und ihre Seite Heal with Liz (ich schreie auf, ja, die finde ich auch super). Sie schwärmte so von dem Programm DNRS, da habe ich das auch gemacht. Da musste man sich verpflichten, jeden Tag das Brain Training zu machen. Es ging viel um Visualisieren, schöne Erinnerungen aus der Vergangenheit, wie stellt man sich die Zukunft vor, etc. Das hat sehr viel in mir verändert. Mein Mann sagte: „Seit du deine Übungen machst, geht’s bergauf.“

Wow, das klingt super. Ich habe auch ANS Rewire gemacht, wirklich ein tolles Programm. Was hat dir noch alles geholfen?

Meine Borreliose wurde behandelt. Ich fand eine tolle Ärztin, mit der ich die EBV-Reaktivierung angegangen bin. Pacing war total wichtig und wahnsinnig hilfreich. Da habe ich einen Kurs bei Pamela Rose gemacht. Sie hatte viele Tipps, wie man einen Crash vermeiden kann. Die Liz Carlson sprach in einem Recovery Interview mit Raelan Agle über den Regenerationsmodus, in dem man kommen muss. Also raus aus dem Stressmodus, rein in den Heilungsmodus. Das habe ich mir zu Herzen genommen. Viel meditiert, Vagusübungen gemacht, Atemübungen nach Wim Hof, Restorative Yoga, eine lange und viele kleine Entspannungsübungen täglich, auf meine Körperhaltung geachtet, mindestens acht Stunden Schlaf. Meine winzigen Spaziergänge machte ich im Schneckentempo und so entspannt wie möglich. Das hatte ich von Dan Neuffer gelernt.

Routinen waren sehr wichtig für mich. Zum Beispiel morgens etwas Tageslicht abbekommen, Ölziehen, Zungenschaben, Lymphmassage nach Dr. Perry machen. Ein paar Nahrungsergänzungsmittel haben mir geholfen, etwa Gingko gegen meinen Brainfog. Ich habe Osteopathie gemacht, war bei einer Atemtherapeutin, bei einer Physiotherapeutin, die Somatic Experiencing lehrt. Ich musste mein ganzes Leben entstressen.

Das ist wirklich sehr umfassend und vieles kommt mir bekannt vor. Hat deine Ausbildung zur Kreativtrainerin und Trainerin für Psychoneuroimmunologie deine Genesungsreise beeinflusst?

Ja, total. Beim Kreativtraining ging es viel um Selbsterfahrung, Grenzen setzen, auch mal Nein sagen können. Ich habe angefangen, sogenannte Ausdrucksbilder zu malen. In der Psychoneuroimmunologie lernt man, wie Psyche, Nervensystem und Immunsystem zusammenspielen. Dass das alles eine Einheit ist und sich gegenseitig beeinflusst. Das hat mir sehr geholfen.

In meiner Genesungsreise spielen unterdrückte Emotionen eine große Rolle, und wie man lernt, mit ihnen umzugehen. War das bei dir eventuell auch so?

Ich war innerlich schon sehr wütend, dass ich so krank war, auf mich, dass ich zu oft über meine Grenzen gegangen bin. Ich habe gelernt, die Wut auszudrücken und sie einfach dazulassen. Journaling, also Tagebuch schreiben, war für mich dabei auch sehr wichtig. Emotionen haben einen Sinn und man sollte ihnen Beachtung schenken.

Das sehe ich auch so. Wie hast du es eigentlich geschafft, trotz Kind zu pacen und wieder gesund zu werden?

Ehrlich gesagt war mein Sohn eine große Stütze für mich. Er hat mich aufgebaut, mir innerlich Kraft gegeben. Mein Mann und meine Eltern haben mich da auch viel unterstützt. Dafür bin ich unendlich dankbar. Was ich körperlich nicht konnte, übernahm mein Mann. Hatte ich einen Crash, haben sich meine Eltern oder mein Mann um meinen Sohn gekümmert. War er im Kindergarten, nutzte ich die Zeit zum Ausruhen und für meine Heilungsstrategien. Ich habe ihm immer gesagt, dass seine Mama etwas weniger Energie hat als andere, aber nicht von Krankheit gesprochen. Ich hatte aber ein furchtbar schlechtes Gewissen, kam mir wie eine schlechte Mutter vor. Mit dem schlechten Gewissen habe ich mich intensiv auseinandersetzen müssen.

Kathrin Frischmann hat hierzu einen umfangreichen Artikel geschrieben: https://www.wieder-aufladen.at/newBlogPost-zKFY6c

Du bietest auf deiner Website Coachings an und das sogenannte Recharge-Programm. Magst du kurz was dazu sagen?

Ja, gerne. Für das Recharge-Programm habe ich meine Erkenntnisse aus dem Kreativtraining und der Psychoneuroimmunologie zusammengetragen, und das, was ich sonst noch alles gelernt habe. Es ist ein Selbsthilfekurs, bestehend aus rund 30 Videos, zum Beispiel zu Pacing, Stressmanagement, Sozialrecht, Umgang mit Arbeit und Ausbildung, Elternschaft, usw. Ziel ist, einen Tagesplan zu haben, was kann ich tun, um da wieder rauszukommen?

Wer ein Coaching bei mir bucht, bekommt das Recharge-Programm automatisch dazu. Allerdings braucht es die Empfehlung eines Arztes oder einer Ärztin, um mich zu buchen.

Das war sicher alles viel Arbeit und ich finde es großartig, dass du anderen Menschen mit ME/CFS oder Long Covid nun helfen willst. Hast du noch eine abschließende Botschaft für Betroffene?

Nie die Hoffnung aufgeben, dass es wieder besser wird! Recovery Videos anschauen!

Liebe Kathrin, vielen Dank für das Gespräch.

 

PS: Natürlich recherchiere und kontrolliere ich alles, was ich hier schreibe, so gut wie möglich. Trotzdem bin ich auch nur ein Mensch und mache Fehler. Außerdem ziehe ich vielleicht ganz andere Schlüsse wie es jemand anders tun würde. Einfach weil sie zu meiner Geschichte passen. Doch jede Geschichte ist anders.

Wichtig: Die Inhalte auf dieser Seite dienen nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Die Inhalte spiegeln meine persönlichen Erfahrungen, Recherchen und Erkenntnisse wider, die mir geholfen haben und die ich deshalb teilen möchte. In Ihrem persönlichen Fall können jedoch ganz andere Sachen eine Rolle spielen und andere Dinge helfen. Bitte sprechen Sie mit Ihrer Ärztin, Ihrem Arzt oder Therapeuten, bevor Sie Entscheidungen treffen, die Ihre körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Auch wichtig: Ich möchte hier niemand von etwas überzeugen. Vielmehr möchte ich mögliche Wege aufzeigen, die hoffentlich einigen Menschen helfen können, ihr ME/CFS oder andere Syndrome zu verbessern oder zu überwinden. Das gilt in diesem Interview auch für Kathrin Frischmann.