Experten-Interview: Dr. Rebecca Kennedy über ME/CFS und Long Covid

Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 14.05.24

 

Dr. Rebecca Kennedy ist Hausärztin und Mind-Body-Expertin aus Portland, Oregon, USA. Sie leitet eine Klinik und beschäftigt sich unter anderem mit sogenannten „neuroplastischen Erkrankungen“ wie ME/CFS, Long Covid, chronischen Schmerzsyndromen und mehr.

 

Das Video ist auf Englisch!

 

 

Einige wichtige Punkte aus dem Interview:

  • Erläuterung von Begriffen wie „Mind-Body-Syndrom“, „psychophysiologische Störung“, „psychosomatisch“ und „neuroplastische Erkrankung“:
  • Unser unbewusstes Gehirn (das 95 % unseres Gehirns ausmacht) scannt jede Information - ist sie gefährlich oder ungefährlich? Je nachdem passt sich dieser Teil des Gehirns an und verändert unsere gesamte Physiologie durch ein biochemisches Kommunikationssystem. Dies kann die Herzfrequenz, die Verdauung und das Energieniveau verändern, Entzündungen hervorrufen und vieles mehr. Äußere und innere Informationen, physische und psychologische Informationen können vom unbewussten Gehirn als gefährlich oder sicher wahrgenommen werden. Die Psychologie und die Physiologie sind miteinander verbunden.
  • Dr. Kennedy zieht es vor, von „neuroplastischen Erkrankungen“ zu sprechen, denn das macht deutlich: Die Ursache für deine Symptome und Syndrome ist das Gehirn. Im Körper ist nichts kaputt. Die Signalübertragung zwischen Gehirn und Körper erfolgt über das Nervensystem (= neuronale Bahnen), diese neuronalen Bahnen können sich verändern (= Neuroplastizität). Bei Erkrankungen wie ME/CFS und Long Covid sind sie verändert.


Was ME/CFS und Long Covid aus dieser Perspektive sind:

  • Je mehr Stress, Traumata oder belastende Kindheitserfahrungen (ACEs) du erlebt hast, desto mehr wird dein unbewusstes Gehirn hypervigilant. Es neigt dazu, sich auf Gefahren einzustellen. Es nimmt mehr Dinge als gefährlich wahr und erzeugt daher häufiger ein Gefahrensignal, das über das Nervensystem (und die Nervenbahnen) an den Körper gesendet wird und Symptome erzeugt. Ein Beispiel ist Schmerz: Ein Signal von einem Gewebe erreicht das Gehirn, und das Gehirn entscheidet, ob es sich um ein gefährliches oder sicheres Signal handelt. Wenn das Gehirn entscheidet, dass es gefährlich ist, sendet es ein Gefahrensignal an das Gewebe, und du spürst Schmerzen im Gewebe und änderst dein Verhalten. Du hörst zum Beispiel auf zu laufen oder bewegst den Finger weg von etwas Heißem. Der Schmerz wird also vom Gehirn erzeugt, nicht vom Gewebe. Das gilt auch für jedes andere Symptom. Dein Gehirn kann auch Müdigkeit als etwas Gefährliches wahrnehmen. Du legst dich hin und ruhst dich aus.
  • Bei ME/CFS und Long Covid nimmt das Gehirn zu viele eintreffende Informationen als gefährlich wahr und erzeugt immer wieder Gefahrensignale (= Symptome), weil es so hypervigilant ist. Dies geschieht auch, wenn keine Gewebe- oder Organschäden vorliegen und das Virus vom Immunsystem beseitigt wurde (um ein Beispiel zu nennen).


Psychologische Faktoren (Emotionen, Persönlichkeitsmerkmale):

  • Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, wie z. B. es anderen recht machen, hohe Leistungen erbringen oder perfektionistisch sein, können sich auf ME/CFS und Long Covid auswirken. Sie können auch das Gefahrensignal im unbewussten Gehirn anschalten und die Genesung beeinträchtigen.
  • Emotionen sind wichtig und normal, sie sind dazu da, uns zu schützen. Aber es wird zum Beispiel oft nicht akzeptiert, Wut auszudrücken. Wenn du als Kind deine Wut gegenüber einem Elternteil zum Ausdruck brachtest, konnte dies die Beziehung zu deinem Elternteil verschlechtern. Das Gehirn hat also gelernt: Wut ist gefährlich, es ist besser, sie zu unterdrücken. Aber wenn man seine Gefühle nicht fühlt und ausdrückt, werden sie durch den Körper ausgedrückt, und das kann zu Symptomen führen. Und das kann auch bei ME/CFS und Long Covid eine Rolle spielen.


Was dir hilft, dich wieder besser zu fühlen:

  • Das Wichtigste: Verstehe die Wissenschaft (= es ist das Gehirn, nicht der Körper), akzeptiere die Diagnose (= es ist das Gehirn), überzeuge dein unbewusstes Gehirn, dass du im Moment sicher bist und dass es aufhören kann, Gefahrensignale an den Körper zu senden (= Symptome). Es gibt viele Möglichkeiten, Sicherheit zu schaffen: Stressbewältigungstools, emotionale Bewusstseins- und Ausdruckstherapie (Emotional Awareness and Expression Therapy), Schmerzaufarbeitungstherapie (Pain Reprocessing Therapy, das funktioniert auch bei anderen Symptomen), Lachen, Freude, usw. Du musst dich deinen Ängsten stellen und die „gefährliche Sache“ mit einem „Sicherheitssignal“ verbinden, damit das Gehirn umtrainiert wird.


Die Botschaft von Dr. Kennedy: Sei offen für diese neuen Ideen. Es gibt einen Weg heraus!

Links:

Harvard-Studie über Long Covid:
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/37361483/

PPDA (Psychophysiologic disorders assocation):
https://ppdassociation.org/

Dr. Rebecca Kennedys Klinik „Resilience and healthcare“:
https://resilience-healthcare.com/

YouTube Kanal:
https://www.youtube.com/@TheBeccakennedy

Die Inhalte auf dieser Seite dienen nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Bitte sprich mit deiner Ärztin, deinem Arzt oder Therapeuten, bevor du Entscheidungen triffst, die deine körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Jeder Weg in ein Mind-Body-Syndrom ist etwas Individuelles, und jeder Weg heraus.