ME/CFS & sozialer Rückzug: Ein Teufelskreis

 

Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 14.04.24

 

Letztes Wochenende bekam ich Besuch von zwei Freundinnen, mit denen ich studiert habe. Ich habe sie Jahre nicht mehr gesehen. Die Kinder der einen Freundin sind 10 und 14 und ich sah sie das erste Mal. Tränen der Freude und Dankbarkeit kullerten mir über die Wangen. Es ist nun wieder möglich, soziale Kontakte zu haben. Wie ein „normaler“ Mensch. Doch nach der abendlichen emotionalen Verabschiedung lag ich flach. Es ging schon nachts los. Fieber, Erbrechen, heftige Bauchkrämpfe nach jedem Essen, gestörte Verdauung, totale Schwäche und Erschöpfung, heftige Kopf- und Gliederschmerzen.

Das muss das Hähnchen mit dem Kartoffelsalat vom Vorabend gewesen sein, dachte ich mir. Das ist ganz klar eine Lebensmittelinfektion. Ein heftiger Magen-Darm-Infekt. Nach drei unsäglichen Tagen war das Schlimmste vorüber, die Fatigue und Schwäche hielt aber noch ein paar Tage an. Mir schoss alles Mögliche durch den Kopf. Ein Crash? Habe ich doch noch ME/CFS? War das alles zu viel? Habe ich es übertrieben? Oder hat sich da ein Gallenstein in Bewegung gesetzt? Ich hatte ja ziemlich fettig und zuckerhaltig gegessen bei all den Ausflügen. Oder war es die Sahnetorte? Ich verzichte ja seit Jahren auf Milchprodukte, weil das meinem Darm in den schlimmsten ME/CFS-Zeiten so geholfen hatte und es inzwischen auch andere Gründe hat. Da es aber in dem einen Café nur Sahnetorten gab, machte ich eine Ausnahme.

Was war los?

Das Ganze ging in den Folgetagen in eine ausgewachsene Gastritis über mit heftigem Sodbrennen, Aufstoßen und Magenschmerzen. Gleichzeitig spürte ich eine immense Wut in mir und auch ein Schwall an Trauer kam immer wieder an die Oberfläche. Was war da los? Und hing alles mit allem irgendwie zusammen? So wie ich das immer anderen Menschen erkläre? Zeit für eine kleine Selbstinspektion.

Gestern und heute wurde mir klar: Das letzte Wochenende war wunderschön. Ich spürte Verbundenheit, Stolz, Freude, Dankbarkeit. Also alles Zeichen, dass mein Gehirn und Nervensystem in einem gesunden Zustand waren. Gleichzeitig hat es aber wohl tiefer in mir, tiefer in Gehirn und Nervensystem, gebrodelt. Da arbeiteten Wut und Trauer vor sich hin. Und ich unterdrückte sie. Ich kann das richtig gut. Denn ich habe das als Kind gelernt. Ich habe es lernen müssen. Und obwohl ich mich inzwischen wirklich gut mit dem Thema auskenne und gelernt habe, diese Emotionen zu fühlen und auszudrücken, holt es mich manchmal wieder ein. Und dieses Mal wohl faustdick.

Unterbewusst und vor allem körperlich habe ich diese Woche viel Wut und Trauer verarbeitet und gelöst. Nun endlich, eine Woche später, ist das Ganze auch in meinem Bewusstsein angelangt und ich kann es rational verarbeiten und integrieren.

Soziale Isolation

Das letzte Wochenende hat mir gezeigt, dass ich durch diese verfluchte Krankheit (bzw. den Komplex verschiedener Syndrome) gefühlt mein halbes Leben verloren habe. Immer mehr musste ich mich zurückziehen, mich sozial isolieren. Es war nicht, weil ich es wollte. Sondern ich musste es. Brainfog, Schmerzen und Fatigue zwingen einen Menschen zum Rückzug. Sie machen ihn handlungsunfähig, er funktioniert nicht mehr, er kann einfach nicht, auch wenn er so gerne will. Das führt natürlich zu Wut und Trauer, auch zu Scham und Schuldgefühlen. Man fühlt sich nutzlos, wertlos, nicht zu gebrauchen. Man empfindet sich als Last, ein Klotz am Bein. Was ist das für ein Leben?

Und dann ist da die Reaktion der anderen Menschen. Wenn man Glück hat, ist da zumindest ein Mensch, vielleicht sogar ein paar, die sich nicht von einem abwenden. Auch wenn man sich – aus ihrer Sicht - von ihnen abwendet. Die sich kümmern, die Hilfe anbieten, die versuchen einem zu verstehen. Die Mitgefühl, Liebe und Einfühlungsvermögen zeigen und einem ein Gefühl von Verbundenheit schenken. Trotz all dem Schrecken.

Aber es gibt auch die andere Seite. Menschen, die sich abwenden. Die einem nicht verstehen. Für die man uninteressant wird, weil sie mit einem keinen Spaß mehr haben können, weil man nicht mehr funktioniert, nicht mehr zu gebrauchen ist. Menschen, die sich denken: Ich habe selbst genug Probleme und zu viel um die Ohren, ich kann mich nicht auch um den oder die kümmern. Oder die denken, der oder die hat sich total verändert, ist psychisch krank, da distanziere ich mich lieber, das ist mir zu viel, das kann ich nicht bewältigen. Oder die so sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt sind, dass der ehemals agile und nun kranke Mensch einfach aus dem Sichtfeld verschwindet. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und so isoliert man sich nicht nur zwangsweise selbst, sondern man wird auch von anderen isoliert. Ein verdammt unguter Kreislauf, der weitere Wut, Trauer, Scham und Schuld schürt – und soziale Abgrenzung.

Darüber reden!

Was natürliche Wege von Gehirn und autonomem Nervensystem sind, sich bei ungünstigen Lebensbedingungen, bei Gefahr, nach einer Verletzung oder Infektion, abzusondern und so das Überleben zu sichern, ist auf Dauer nicht hilfreich. Im Gegenteil. Wir sind soziale Wesen, wie alle Säugetiere. Wir brauchen einander. Wir brauchen Verbundenheit, gute und sichere Bindungen zu anderen Menschen. Um aus diesem sozialen Rückzug wieder herauszukommen, der Menschen mit chronischer Fatigue, chronischen Schmerzen und Depressionen begleitet, müssen sie sich aus dieser erzwungenen Isolation befreien. Dabei hilft vor allem: mit den Menschen um einem herum darüber reden! Erkläre den Menschen, die sich nicht von dir abwenden, was du empfindest. Wie schlimm das für dich ist. Dass du das nicht extra machst. Dass du unbedingt wieder normal funktionieren willst, dass du die anderen lieb hast, dass du ihre Hilfe brauchst. Dass du alles in deiner Macht stehende tust, um da wieder herauszukommen. Je mehr die Menschen verstehen, desto mehr Verständnis haben sie.

Während diesem Prozess der „Isolation“ und anschließenden „Resozialisierung“ wird es auch passieren, dass Menschen aus deinem Leben verschwinden oder nicht mehr zum engen Kern gehören, sondern in die „Peripherie“ wandern. Das schmerzt. Aber das ist okay. Und vielleicht sogar heilsam  - wie in meinem Fall. Konzentriere dich auf die Menschen, die bei dir bleiben und die dir guttun, bei denen du dich sicher fühlst. Lass dir von ihnen helfen, verbinde dich mit ihnen. Und versichere deinem Gehirn und Nervensystem, dass Rückzug nun nicht mehr nötig ist, sondern dass es sicher ist, sich wieder zu verbinden. Vermutlich heilst du durch nichts schneller, als wenn du dir das erlaubst und antrainierst.

Zurück zu mir und meinem Wochenende. Ob nun das Essen, das Emotionale oder die ungewohnte Anstrengung die Beschwerden gemacht haben, weiß ich nicht. Ich gehe aber davon aus, dass es ein Mix von allem war. Alles im Körper hängt mit allem zusammen ( = Psychoneuroendokrinoimmunologie). Jedenfalls hat es mir sehr geholfen und wieder ein Stückchen weiter geheilt, dass ich das letzte Wochenende auf einer körperlichen (mit TRE), emotionalen (zulassen und ausdrücken) und mentalen Ebene (hinterfragen und analysieren) aufgearbeitet habe. Der Besuch hat mich mächtig gefreut und berührt. Er hat mich aber auch sehr aufgewühlt.

 

Wichtig: Die Inhalte auf dieser Seite dienen nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Bitte sprich mit deiner Ärztin, deinem Arzt oder Therapeuten, bevor du Entscheidungen triffst, die deine körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Jeder Weg in ein Mind-Body-Syndrom ist etwas Individuelles, und jeder Weg heraus.